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ANGEDACHT im September/Oktober

Vor ein paar Tagen kam mir eine Situation in den Sinn, die ist fast 30 Jahre her und ich habe mich damals sehr geschämt.
Während der Ausbildung im Predigerseminar kurz nach der Wende bekamen wir plötzlich mehr Geld, alle paar Monate wurde unser Gehalt etwas angehoben von anfänglich 300 D-Mark (brutto) auf dann immerhin 1.200 DM! Das war den meisten von uns unheimlich: soviel Geld!
Nur einer – er hieß Ernst-Hermann mit Vornamen – meinte, dass er gar nicht genug Geld haben könne. Das war uns natürlich peinlich. So etwas sagt man doch nicht als angehender Pfarrer. Wir sind doch alle schön bescheiden und so.

Ernst-Herrmann wurde wegen seiner Geldgeilheit ausgegrenzt, auch von mir. Am Ende unserer Ausbildung lüftete er dann sein Geheimnis: Er hatte die ganze Zeit seinen jüngeren Bruder finanziell unterstützt. Außerdem hatte er noch über eine Hilfsorganisation mehrere Patenschaften für Kinder in Indien übernommen, damit die zur Schule gehen können und eine Ausbildung machen. Für sich selber hatte er nur das wirklich Nötigste behalten. Was habe ich mich damals geschämt für meine Voreingenommenheit. Ich hatte gedacht, ich wüsste genau, dass Ernst-Herrmann geldgeil sei. Aber was wusste ich schon?

So ähnlich besingt es der Sänger Clueso in seinem Song „Du und ich“ - den ich da gerade im Radio gehört hatte. Er sitzt da so im Bus und macht sich Gedanken über den Busfahrer: (. . . ) aber vielleicht schaut er nicht nur aus Routine in den Rückspiegel ab und zu zurück / was wissen du und ich / schon über ihn / über irgendwen? denn wir sehen nur was wir sehen

So ist es: wir sehen nur, was wir sehen. Was wir sehen wollen. Was wir sehen können.

Das ist eine uralte Erkenntnis, die sich schon – sie ahnen es – in der Bibel findet:

Der Mensch sieht, was vor Augen ist,Gott aber sieht das Herz an

heißt es da.

Was wissen wir schon über den oder die? Wir machen uns halt so unser Bild. Aber oft genug werden wir überrascht, wenn wir zufällig mal hinter die Fassade schauen dürfen.
Dann ist da der Ordnungsdezernent, immer mit Schlips und Kragen, der in seiner Freizeit oder im echten Leben ein fanatischer Heavy-Metal -Fan ist mit allem, was dazugehört. Oder die schrullige Alte, die immer Flaschen aus den Papierkörben gesammelt hat, hinterlässt ein zieml ich großes Vermögen, dass nun der Staat erbt, weil sie kinderlos war. Und der komische Schauspieler, der jeden zum Lachen brachte, der sich nun wegen seiner Depression das Leben nahm.

Wir sehen nur, was wir sehen.
Und machen uns Bilder. Und liegen oft daneben.

Es grüßt Ihr
Pfarrer Arne Tesdorff